31. März 2023

Mein Erfahrungsbericht

Die aktuelle Situation der Schweizer Politik für Menschen mit Behinderungen gehört noch nicht zu den besten der Welt, wenn es um Zugänglichkeit und Inklusion geht. Viele Barrieren, von denen Menschen mit Behinderungen betroffen sind, bestehen noch immer in allen Bereichen, wie zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, bei der Mobilität etc. Auf legislativer Ebene gibt es Fortschritte bei der Beseitigung von Barrieren. Dies wurde jedoch in einem Artikel der deutschen Zeitung Die Zeit (1) nicht festgestellt. Aus meiner Sicht als gehörlose Person gibt es zu wenig Fortschritte bei der Barrierefreiheit. Eine grosse Anzahl von Menschen mit Behinderungen wird immer noch zurückgelassen.

Nachdem der UN-Ausschuss die Situation zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz nach der Ratifizierung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2) im Jahr 2014 geprüft hatte, kritisierte er die Schweiz im März 2022 für die geringen Fortschritte in ihrer Politik zugunsten von Menschen mit Behinderungen (3). Darüber hinaus war der betreffende Ausschuss der Ansicht, dass die Schweiz diese Rechte verletzt hatte, da sie nicht über eine "umfassende Strategie zur Umsetzung" (4) des Übereinkommens verfügte. Um Abhilfe zu schaffen, richtete der Ausschuss daher eine Liste mit Empfehlungen zur Einhaltung der Umsetzung des Übereinkommens an die Schweiz.

Wie viele andere Menschen mit Behinderungen es gerne tun würden, lege ich hier Zeugnis über die verschiedenen Diskriminierungen ab, denen ich ausgesetzt war. Im Dezember 2022 habe ich meinen Arbeitsplatz in einer Einrichtung verloren, die für ihr Engagement für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen bekannt ist. Trotz der Ziele dieser Einrichtung war mein Arbeitgeber nicht bereit, mich dauerhaft zu beschäftigen. Trotz meiner Fähigkeiten und Erfahrungen wusste er nicht, was er mit mir machen sollte, weil ich der erste gehörlose Angestellte war.

In den letzten 20 Jahren wurde ich von einigen Arbeitgebern diskriminiert. Und in den letzten drei Jahren habe ich für drei verschiedene Organisationen gearbeitet, die sich mit den Problemen von Menschen mit Behinderungen befassen, jedes Mal mit vielen Problemen. Das Hauptproblem bestand darin, dass diese Organisationen überwiegend von Menschen ohne Behinderung geleitet wurden. Dieses Problem wird übrigens im Artikel von Die Zeit (5) mit der folgenden Absatzüberschrift umfasst: "Die grosse Behindertenorganisationen kommen fast ohne Behinderte aus". Deshalb möchte ich, dass die Stimme eines behinderten Menschen in den Organisationen und in der politischen Debatte in unserem Land zählt.

In diesen Organisationen ist ein weiteres Problem die Einmischung. Meistens werden Entscheidungen in der Behindertenpolitik von nichtbehinderten Führungskräften getroffen, nicht von Menschen mit Behinderungen.   Letztere wurden nur sehr selten konsultiert oder konnten ihre Meinung nicht äussern, bevor die endgültige Entscheidung getroffen wurde.

Deshalb möchte ich hier über die Diskriminierungen berichten, denen ich wiederholt ausgesetzt war. Ich kann nicht mehr mit diesem bohrenden Problem in meinem Inneren leben, von dem jeder weiss, dass es existiert. Stellen Sie sich vor, wie viele der 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen genau wie ich Opfer sind. Es gibt nur sehr wenige Berichte oder Statistiken, die diese Zahlen erfassen. Für mich ist es nun an der Zeit, das Schweigen zu brechen und die schwere Ungerechtigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz, aber auch in anderen Bereichen, anzuprangern. Einige Menschen, insbesondere meine ehemaligen Vorgesetzten, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren sich dieser Diskriminierung bewusst, haben aber nicht versucht, dagegen vorzugehen. Bei einigen von ihnen waren die Klischees über Gehörlosigkeit immer noch präsent, trotz meiner Versuche, Möglichkeiten der Gegenseitigkeit zu eröffnen und ihnen die grundlegenden Bedürfnisse im Zusammenhang mit Gehörlosigkeit am Arbeitsplatz zu vermitteln. 

Darüber hinaus sind die Kosten für Dolmetscher:innen eines der grössten Probleme für viele gehörlose Menschen. Jede:r von uns hat Anspruch auf einen monatlichen Betrag aus der Invaliditätsversicherung für Dolmetschen am Arbeitsplatz, dieser umfasst aber nur 10 Stunden Dolmetschen pro Monat. Über den festgelegten Schwellenwert hinaus müssten Arbeitgeber, die an der Einstellung einer gehörlosen Person interessiert sind, für die zusätzlichen Kosten aufkommen. Die meisten von ihnen verfügen nicht über irgendein Budget, um diese zusätzlichen Kosten auszugleichen. Aus diesem Grund ist es für gehörlose Menschen so schwierig, sich am Arbeitsplatz zu integrieren, eine Stelle zu finden oder die Karriereleiter hinaufzuklettern.

Denken Sie daran, dass diese gehörlosen Menschen wie Sie Steuern zahlen, aber nicht einmal die Hälfte von dem erhalten, was Hörende in ihrem Lebensweg nutzen können, um ihre Ziele zu erreichen. Beispielsweise ist die Berufswahl sehr eingeschränkt, der Zugang zu Bildung und Ausbildung ist beschränkt, es mangelt sehr oft an geeigneten Informationen usw. Dies ist eine echte Diskriminierung im Sinne der internationalen Menschenrechtsverträge.

Da die Bundesverfassung Diskriminierung verbietet, müssen wir tatsächlich konkret und sofort handeln. Die Zeit drängt nicht nur für uns, sondern auch für Sie und für alle anderen!

Wenn ich gewählt würde, wäre ich bereit, mich politisch für die Themen Behinderung, soziale Gerechtigkeit, Inklusion, Gleichstellung sowie Europapolitik zu engagieren. Für mich ist die Europapolitik ein zentrales Thema, da die Europäische Union eine Reihe von politischen Arbeiten (6) im Bereich Behinderung durchführt. Darüber hinaus haben viele europäische Nichtregierungsorganisationen (7) ein grosses Gewicht, wenn es darum geht, die Interessen von Menschen mit Behinderungen in ganz Europa zu verteidigen und zu vertreten. Wir können diesen Fall nutzen, um unsere Rechte durchzusetzen.

Es ist nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen mit Behinderungen wichtig, dafür zu sorgen, dass Politiker und Unternehmen ihre Rechte voll und ganz respektieren und die volle Inklusion akzeptieren, ohne Hindernisse, die von Menschen ohne Behinderungen errichtet wurden. Die Gesetze müssen geändert werden, damit Institutionen, Politiker und Unternehmen Massnahmen ergreifen, um alle Menschen in allen Bereichen einzubeziehen, einschliesslich der 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen!

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und eure Unterstützung für meine Kandidatur für die volle Inklusion und die Verteidigung der Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Legend :
[1] Die Zeit, 17. Februar 2022, « Inklusion in der Schweiz: Wir sind keine hilflosen Geschöpfe!» von Samanta Siegfried.
[2] Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen : https://www.edi.admin.ch/dam/edi/de/dokumente/internationales/amtliches/uno-konvention.pdf.download.pdf/uno-konvention.pdf 
[3] Inclusion Handicap, https://www.inclusion-handicap.ch/de/themen/un-brk/schattenbericht-667.html 
[4] Amnesty International Schweiz, https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/amnesty-report/jahre/2022/laenderbericht-schweiz 
[5] Die Zeit, 17. Februar 2022, « Inklusion in der Schweiz: Wir sind keine hilflosen Geschöpfe!» von Samanta Siegfried.
[6] European Union Disability Strategy for 2021-2030 : https://www.europarl.europa.eu/news/en/headlines/society/20200604STO80506/a-new-ambitious-eu-disability-strategy-for-2021-2030
[7] European Disability Forum : https://www.edf-feph.org/